#1

Zugfahren in China

in Dies und das 13.04.2020 15:32
von Meridian | 2.898 Beiträge

Auf Munros Anregung über seine Breslau-Reise (dort war ich 2019 mit dem Kulturzug) schreibe ich über meine Zugreisen in China 2001. Kurz wiederholt: Es war im März 2001, Hochgeschwindigkeitsverkehr gab es nicht, aber im Vergleich zu anderen Schwellenländern hatte China schon damals ein recht gutes Bahnnetz. So gibt es in Brasilien, Argentinien und Mexiko (alles Schwellenländer) kaum Überland-Schienenverkehr.

Munro schrieb, dass er Bummelzüge bevorzuge, weil man die Landschaft besser sieht und weil man da dem Volk näher kommt. Das stimmt auf jeden Fall. Bevor ich mit CHina beginne, erinnere ich mich an eine Zugfahrt von Berlin nach BRemerhaven zu einem Vorstellungsgespräch im Jahr 2002. Ich fuhr mit dem Interregio (Fahrkosten mit ICE wurden damals nicht erstattet) bis nach Bremen, dann mit einem RE bis nach Bremerhaven. Mit Zügen durch Niedersachsen fahren empfinde ich stets als sehr langweilig. Ich schaue mir gerne die Landschaft an, aber NI bietet sehr wenig. Das liegt aber nicht nur an NI, sondern an der recht hohen Geschwindigkeit der Züge (bis Hannover: 200km/h, danach bis 160km/h). Abwechslung brachte von H nach HB nur die Brücke über die Aller bei Verden. Auch der RE nach BRemerhaven brachte kaum Abwechlung. Denn er fuhr auch bis zu 160km/h und hielt nur wenig.

Doch die Rückfahrt war unter völlig anderen Bedingungen. Früher als erwartet mit dem Vorstellungsgespräch fertig (ich gebe bei Vorstellungegesprächen immer große Zeitpuffer) nahm ich einen früheren Zug nach Bremen, diesmal ein RB. Doch wegen Personen auf dem Gleis durfte auf dem gesamten Abschnitt bis Bremen nur 40km/h gefahren werden. Es war ein Geschleiche in einer zunächst eintönig anmutenden Landschaft (meist Fichtenwald). Doch die langsame Fahrt erlaubt immer wieder Einblicke. Da überquert man ein recht naturnahes Bächlein (nicht begradigt), das durch ein Dorf mit den typischen alten Niedersachsenhäusern plus Wind- und alte Wassermühle durchquert. Im Wald sah ich man immer wieder Pilzesammler, dann ein Fußweg, der mehr oder weniger parallel zur Strecke verlief und weitere Einzelheiten in der gar nicht mehr so eintönigen Landschaft die nur bei hoher Geschw. eintönig ist. Da ich 1h früher als erwartet zurückgefahren bin, musste ich mir keine Sorgen um den Anschluss in Bremen machen.
Fazit: Niedersachsen durchfährt man möglichst schnell, um es hinter sich zu bringen oder ganz langsam. Tödlich wären nur 100km/h, gerade zu schnell, um Einzelheiten zu erkennen, aber für ein Flachland eine eher niedrige Gschw.

Ich kenne es im Urlaub auch von den Straßen: Von der Autobahn sieht man am wenigsten (ok, gibt spektakuläre Ausnahmen, z.B. A10 in Italien Genua-Nizza), und die kleinen Straßen bieten ganz andere Einblicke, alleine weil sie landschaftlich angepasster sind und weil man langsamer fährt.

Aber zu China:
Wir fuhren (zu dritt: mein Gastgeber, dessen Freundin und ich) den Zug Hangzhou - Chongqing. Entfernung: 2350km, Dauer 43h --> Durchschnittgeschw.: 55km/h
Damals gab es 4 Zugtypen:
T plus Zahlen - besonders schnell mit sehr wenig Halten, bis 160km/h, moderne Waggons
K plus Zahlen - schnell mit wenig Halten, bis 120km/h, moderne Waggons
nur Zahlen, die erste Ziffer bei 1-4 - Eilzug, mehr Halte als ein K-Zug, 120km/h, alte Wagons, unklimatisiert
nur Zahlen, die erste Ziffer 5-9 - Bummelzug, alle Halte, 100km/h, alte Waggons, unklimatisiert

Die Geschwindigkeiten sind natürlich die maximale möglichen und werden nur gefahren, wenn 1. die Lokomotive das überhaupt schafft und 2. die Gleise das überhaupt zulassen. Echten Nahverkehr gibt es auf Chinas Schienen nicht. Selbst in dicht besiedelten Regionen liegen die Bahnhöfe 30km auseinander. Selbst die Bummelzüge können mehrere 100km zurück legen. Öffentlicher lokaler Verkehr wird mit Bussen abgefertigt.

Unser Zug war ein Eilzug. Wir nahmen Hardsleeper, was dem Liegewagen entsprach, aber mit offenen Abteilen, pro Person mit umgerechnet 64DM recht billig. Der Zug hielt laut Fahrplan 30 mal, was einer mittleren Fahrdauer von fast 1,5h zw. jedem Halt entsprach. Soweit zum Begriff "Eilzug".

Da die Essensversorgung im Zug eher schlecht war, kauften wir viel ein: vitaminreiches Obst, aber auch Notnahrung wie die in China beliebten 5min-Terrinen, jeder eine kleine Thermoskanne für Tee, da heißes Wasser fast immer verfügbar war.


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#2

RE: Zugfahren in China

in Dies und das 13.04.2020 16:18
von Meridian | 2.898 Beiträge

Wie in allen Bahnhöfen Chinas ähnelt die Abfertigung eher wie bei einem Flughafen: Gepäckdurchleuchtung, Warteraum, Boarding bei Anzeige unseres Zuges, die Fahrkarten wurden noch im Bahnhof entwertet, dann bei Einstieg in den Zug erneute Kontrolle. Wir wurden nur in den Waggon eingelassen, in dem wir auch gebucht haben. Langes Durchgelaufe durch den Zug ist unerwünscht, was bei den Menschenmassen verständlich ist. Der Zuge hatte 18 Waggons, gezogen von 1 Diesellok.

Unsere 3 Betten waren gleich am Wagonanfang, direkt über den Rädern. Obwohl die Betten alle übereinander waren, war mehr Platz vorhanden als in deutschen Liegewägen wegen des größeren Lichtraumprofils chinesischer Waggons. Aber eher wirkten die recht alten Waggons noch aus russischer (sowjetischer ) Produktion. Sie hatten die typische Wellblechstruktur.

Wir wurden gleich mit diversen Gerüchen konfrontiert: An den Waggonenden befinden sich Toiletten, wo es mehr oder weniger stank. Es waren Stehklos mit Haltegriff an der Wand, alles alt, aber einigermaßen sauber. Der Vorraum, also der Raum zwischen Klo und den ersten Betten enthielt 2 Waschbecken (im Toilettenraum gibt es kein Waschbecken). Gerüche kamen auch von dort, weil gerade dort geraucht werden durfte. Doch auch von den Fenstern kamen Gerüche. Denn die teils völlig eingerosteten Fensterhalterungen wurden mit einer silbrigen Rostschutzfarbe offenbar noch vor kurzem gestrichen, denn es roch nach Formaldehyd. Dieser Geruch war noch der angenehmste, aber auch der giftigste. Ich hatte das unterte Bett - und sogar Glück. Denn am Fenster war eine komplett durchgerostete Stelle, durch die ich mit frischer Luft versorgt wurde. Zum Glück waren die Außentemperaturen stets angenehm, es war im (übrigens vollen) Zug weder zu warm noch zu kalt.

In den drei Betten gegenüber lagen alles Chinesen: ein Herr mittleren Alters, der nichts wissen wollte, wir ließen uns gegenseitig in Ruhe, dann noch eine junge Frau, 19 Jahre alt, und eine Frau mittleren Alters. Erst dachten wir, die ältere Frau war die Mutter des Mädchens, aber es verhielt sich anders. Das Mädchen machte erstmals seit 3 Jahren eine Heimreise nach Chongqing zu ihren Eltern. D.h. mit 16 verließ sie die recht arme Gegend, um in Hangzhou eine besser bezahlte Arbeit zu finden. Hangzhou war zumindest damals eine der reichten Städte von China mit zudem nicht allzu großen sozialen Unterschieden (im Gegensatz zu Schanghai). Viele Leute zog es damals nach Hangzhou, auch wegen der "guten" Luft. (Naja, wenn die Luft in Hangzhou "gut" war, dann wäre Berlin ein exklusiver Luftkurort. Ich empfand die Luft meist als staubig, und auch der viele Regen konnte die Luft nicht richtig reinigen.) Die ältere Frau hatte dasselbe Ziel und während der Zeit in Hangzhou mehr oder weniger eine Art Mutterrolle angenommen. Mit den beiden kamen wir immer wieder ins Gespräch, d.h. mein Gastgeber, weil er als einziger chinesisch spricht.

Jeder Waggons hatte einen Schaffner, in unserem Fall eine Schaffnerin, die für Sauberkeit und Ordnung sorgte. Sie war stolz, in ihrem Waggon westliche Ausländer und haben. Normalerweise nutzen diese die Softsleeper-Waggons, und auch eher die vom schnelleren K-Zug, der damals 39h statt 43h benötigte. Bevor ich fortfahre, hier noch ein Vergleich mit den heutigen Fahrzeiten:

Einen alten Eilzug wie damals gibt es nicht mehr. Es gibt pro Tag 2 K-Züge, die die Strecke in 26h bzw. 23h bewältigen. Grund sind Ertüchtigungen der Altstrecken, aber auch der Neubau von weiteren Erschließungsstrecken. Es werden in China nicht nur Hochgeschwindigkeitsstrecken gebaut. Ein Z-Zug schafft es in etwas weniger als 16h. Z-Züge sind die schnellsten konventionellen Züge. Sie schaffen 160km/h, halten aber sehr wenig, sie können mehrere Stunden ohne Halt durchfahren. Meist sind sie nur nachts unterwegs und mit Deluxe-Abteilen ausgestattet. Die T-Züge sind hingegen auf 140km/h degradiert, aber immer noch schneller als K-Züge.
Dann gibt es 4 D-Züge, die es in 11:40 - 12:30h schaffen. Es sind mittelschnelle Hochgeschwindigkeitszüge mit max. 250km/h, halten aber öfter als Z-Züge. D-Züge fahren auf Schnellfahr- und auf Altstrecken. Manche D-Züge sind mit Betten ausgestattet. China hat damit als einziges Land Hochgeschwindigkeits-Nachtzüge.
Am schnellsten sind die 2 G-Züge mit mind. 300km/h, die es in je ca. 10:20h schaffen. Sie fahren nur auf Hochgeschwindigkeitsstrecken von mindestens 200km/h, nicht aber auf Altstrecken. Gerade die G-Züge fahren an den Städten vorbei, an denen wir auch vorbei gefahren sind, nur eben auf Neubaustrecken. Die anderen Züge fahren inzwischen auf anderen Strecken, die etwas kürzer sind.

Zu den Preisen: Wir zahlten wie gesagt damals 64DM, aber K-Züge waren schon mit 80-90DM teurer. Jetzt würde ein Hardsleeper im K- oder Z-Zug etwa 50€ kosten, was nur wenig teurer wäre als damals. Im schnellsten G-Zug kostet ein Sitzplatz 2. Klasse umgerechnet 100€. Für diese lange Strecke ist nicht einmal das allzu teuer. Gemessen am technischen Stand ist Bahnfahren in China nach wie vor billig.


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#3

RE: Zugfahren in China

in Dies und das 13.04.2020 16:58
von Meridian | 2.898 Beiträge

Um 20h ging es in Hangzhou los. Die alten Waggons waren ohne Puffer. Beim Losfahren war folgendes immer dasselbe. Erst knarrte es, als ob der Zug erstmals seit Jahren in Bewegung gesetzt würde, dann gab es einen Ruck ähnlich wie in den alten Berliner S-Bahn-Waggons, dann kam der Zug langsam in Fahrt. langsam, denn eine Diesellok ist nicht so stark wie eine E-Lok und braucht eine Weile, um 18 Waggons in Fahrt zu kriegen. Deutlich war Gleisrattern zu hören, was uns während der gesamten Fahrt begleitete. Und war war gar nicht so leise, weil wir ja direkt auf den Rädern waren. Nachdem wir uns eingerichtet hatten, wollten wir - endlich zu dritt - eine Runde Skat spielen. Wir fingen an, die Chinesen glotzen und versuchten vergeblich den Sinn des Spieles herauszubekommen. Doch nach kaum einer Runde sahen wir, wie die Schaffnering die Vorhänge vor die Fenster schob. Tja, um 21:30h hieß es: Ab in die Heia, die Lichter werden gelöscht, und die gebotene Nachtruhe war einzuhalten.

Der Zug fuhr gemächlich (wohl kaum 80km/h) durch eine eher flache Landschaft. Ab und zu hielt er. Nachdem ich doch kurzzeitig schlafen konnte, wachte ich auf. Es war hell, früher Morgen, und der Zug fuhr offensichtlich recht schnell. Nach dem hektisch klingendem Gleisrattern wohl sein Maximum von 120km/h. Fuhr der Zug über eine Weiche, rumpelte es sehr heftig, und der Waggon machte einen derartigen Satz, dass ich ein Entgleisen befürchtete. Bei einem Durchschnitt von 55km/h erwartete ich noch Bereiche, in denen wohl geschlichen wird. Man sollte aber die Aufenthaltsdauer von je 10min an den Zwischenhalten nicht unterschätzen. Bei 30 Halten waren das alleine 300min, also 5h, die man von der reinen Fahrzeit abziehen sollte.

Als wir so wach waren, um aus den Fenstern raus zu schauen, erwartete uns eine flache, strukturlose, kotzgrüne bis bräunliche Landschaft, mit der man noch weniger anfangen konnte als in Niedersachsen bei hoher Geschwindigkeit (s. ersten Beitrag). Doch nach einem Richtigungswechsel ging es wieder mit gefühlten 80km/h weiter. Wir machten eine Katzenwäsche. Dabei beobachteten wir die Chinesen, die alle großen Wert aufs Zähneputzen legten und in einer Warteschlange vor den Waschbecken standen. Von dort kamen aber die hemmungslosen, landestypischen Rotz- und Spuckgeräusche, die ganz China prägen. Wir frühstückten. Heißes Wasser war in großen, verbeulten Thermoskannen verfügbar, die stetig nachgefüllt wurden. Damit füllten wir unsere kleinen Kannen mit ein paar Teeblättern.

Die Landschaft zog an uns vorbei. Dabei stellte ich fest, dass die Bahnstrecke auf einem zeitweise sehr hohen Damm (bis 30m) durch die Ebene verlief. Vielleicht ist das ein Hochwasserschutz. Später gab es erste Hügellandschaften und auch den ersten Tunnel. Auffallend waren auch sehr wenig Straßen. Ab und zu Dörfer, bei denen ich aber keine Dorfkultur erkennen konnte. Sie bestanden meist aus baracken-artigen Gebäuden, manchmal auch ein neuerer mehrstöckiger Plattenbau dabei. Ans Straßennetz waren die Dörfer oft nicht angeschlossen. Fußwege führten von mehreren Dörfer sternförmig auf einen Platz zu, auf dem alte russische LKWs parkten. Von dort begann eine Schotterstraße, die in die nächste Stadt führte. Vermutlich brachten die Bauern ihre Ware auf dem Kopf tragend (ich habe es auch beobachtet) bis zu den LKW-Sammelpunkten, von wo sie mit den Lastern zum städtischen Marktplatz gebracht wurden. Die 2-gleisige Bahnstrecke wirkte schon recht modern.

Ein strenges Reglement war die Toilette. Stets wurde sie sauber gehalten. Ich habe gesehen, dass leider auch mal "daneben" gemacht wurde, aber es wurde bald beseitigt. Wie bei uns in früheren Zeiten landete der Unrat noch auf den Gleisen. Daher war es verboten, die Toilette zu verwenden, wenn der Zug an einem Bf. hielt. Das galt auch hier in DE, aber in CN wurde das konsequent umgesetzt. Als ich zur Toilette wollte, wr sie besetzt. Ich wartete. Doch dann kam die Schffnerin, sie wollte rein. Doch weil verschlossen war, hämmerte sie unter lautem Rufen gegen die Tür. Es dürfte wühl lauten. "Beeil dich!" Ungeduldig hämmerte sie weiter, bis in Mann eilig rauskam, die Hose noch hochziehend... Dann verschloss sie die Tür und verriegelte sie mit einem Spezialschlüssel, so dass die Toilette unzugänglich war.

Kurze Zeit später hielt der Zug. Wie an den meisten Bahnhöfen, kam sofort Verkäufer mit fahrenden Küchen angerollt und boten ihre Waren an. Blitzschnell wechselten über die Zugfenster (sofern nicht eingerostet) Geldscheine gegen Imbisse. Viele Sachen waren für uns unappetitlich. Sehr häufig wurden gebratene Hühnerklauen angeboten. Einmal kauften wir die chinesische Grapefruit, die so groß wie ein Fußball war.

Langsam baute sich eine Verspätung von 20min auf. Die 10min Aufenthalte an den Bahnhöfen wurden aber trotzdem eingehalten. Sie waren wichtig für die fahrenden Küchen. Dann ging es auf eine lange Brücke mit einem endlos erscheinenden Gewässer. Es war ein 2km breiter Fluss, dahinter eine Großstadt und erstmals Beginn einer Oberleitung. Am Bf. wurde die Lok ausgetauscht, und es ging elektrisch weiter. Ich war skeptisch. Laut Plan soll es besonders langsam weiter gehen. Zwischen jedem Halt wurden die Fahrzeiten und zurück gelegten Entfernungen angegeben, so dass man auf die mittlere Geschw. schließen konnte. Demnach würde es ab hier mit nur noch 40-45km/h im Mittel weiter gehen, also max. 50-60km/h.

Der nächste Halt sollte ein 2,5h erreicht werden. Doch es ging nicht langsamer voran, sondern mit ca. 80km/h. Die 2-gleisig, nun elektrifizierte Strecke wirkte sehr modern in der Landschaft, wo Bauern mit Ackerbüffeln ihre Felder bearbeiteten. Landschaftlich wurde es jetzt interessant. Es wurde gebirgig, Tunnels und Brücken wurden nun ständige Begleiter. Der Lokführer hupte ständig. Ich sah auch warum: Das Gegengleis benutzen die Bauern als Fußweg, dabei oft mit Tragekörben auf dem Kopf. Den nächsten Halt erreichten wir 20min zu früh. Grund: Die Bahnstrecke war erst vor kurzem modernisiert, aber der Fahrplan noch nach der alten Bahnstrecke ausgerichtet. (Das Gleisrattern war trotzdem unüberhörbar.)

An diesem Halt verbrachten wir 50min: Erst die 20min zu früh abbummeln, dann die 10min Aufenthalt, dann weitere 20min herumstehen, denn die würden eh wieder reingeholt. Auch an den nächsten Stationen waren dadurch die Aufenthalte länger. Wir nutzten sie, um frische Luft zu schnappen. Beim Einsteigen merkten wir, wie schlecht die Luft im Zug war.


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#4

RE: Zugfahren in China

in Dies und das 13.04.2020 17:35
von Meridian | 2.898 Beiträge

An einem ländlichen Bahnhof waren Kinder. Das war insofern bemerkenswert, weil mir bewusst wurde, dass ich in Hangzhou, wo ich schon 2 Wochen war, kaum Kinder gesehen habe, nur wenige Male in Schuluniformen im Gleichschritt marschierend. Dort waren es schmuddelig gekleidete Bauernkinder, häufig mit Dreck um den Mund. Sie müssten eigentlich dadurch eine starke natürliche Immunität gegen Krankheiten haben getreu dem Motto "Dreck macht Speck". Sie riefen uns ein "Hello" zu, wie es uns stets Chinesen machten, wenn sie westliche Ausländer sehen. An einem so ländlichen Bf. waren wir natürlich echte Exoten. Mein Gastgeber grüßte auf chinesisch zurück, und schwupps, waren wir der Mittelpunkt des Geschehen und vermutlich DAS Ereignis des Tages für die Bauern, die sich für jede Abwechslung in ihrem harten Leben freuen.

Auffallend war zudem, dass die Menschen dort kleiner waren als die Bewohner in Hangzhou. Wir sind im armen Westen von China angekommen. Früher waren die Europäer auch kleiner (man sieht es an der üblichen Größe der Ritterrüstungen). Dass wir größer wurden, liegt am Zuckerkonsum. Der kam im Westen von CN noch nicht an, jedoch schon im reichen Osten (mit allen typischen Wohlstandskrankheiten), wo ich immer wieder größere Menschen sah.

Ein Bauer hatte ein Anliegen, das wir unmöglich erfüllen konnten. Er sagte, seine 13-jährige Tochter sei sehr intelligent und fürs Landleben eigentlich nicht geeignet. Sie bräuchte eine höhere Bildung. Ob wir sie nicht mitnehmen konnten? Leider konnten wir das nicht. Es offenbart die Tragik, die in den häufig sehr rückständigen ländlichen Regionen Chinas sich zeigt. Da waren wir plötzlich in der Dritten Welt. (Anders die ländliche Umgebung von Hangzhou: Nicht nur die Stadt ist reich, sondern auch ländliche Gebiete um das Drachenbrunnental, wo der beste Grüntee geerntet wird. Die ganze ländliche Infrastruktur hat durchaus europäisches Niveau.) Immerhin sahen wir aber Stromleitungen zu allen Dörfern, was aber nicht heißt, ob die Stromversorgung dauerhaft oder nur wenige Stunden pro Tag gewährt wurde. Ein anderer Punkt dürfte die Wasserversorgung sein. Ich glaube kaum, dass jedes Dorf Wasserleitungen hat, sondern es noch aus Ziehbrunnen bezieht.

Weiter ging es, und es wurde wieder Nacht, was ich schade fand, denn die Gebirgslandschaft setzte sich fort, ja es wurde sogar hochgebirgig. Die Modernisierung der Strecke war noch nicht abgeschlossen. Je weiter es durch das Gebirge ging, desto mehr eingleisige Abschnitte gab es mit halbfertigen Brücken für das 2. Gleis. In der Vollmondnacht konnte ich immerhin sehen, dass es über sehr tiefe Abgründe ging, dazwischen immer wieder teils lange Tunnels. Irgendwann hielt der Zug im Nichts. Es gab wohl Probleme mit der Lok. Später ging es weiter. Die Luft wurde frischer, nicht nur wegen der Nacht, sondern auch wegen der Höhe. Ich vermutete, dass wir zeitweise auf über 1500m Höhe kamen. Denn schon am Tag zuvor schienen wir immer höher zu geraten. Waren zunächst noch Bananen angebaut, verschwanden diese später, war auf ein kälteres Klima deutete.

Am frühen Morgen erreichten wir Guiyang, eine Provinzhauptstadt, mit 45min Verspätung. Da bogen wir von der Hauptstrecke auf eine eingleisige Strecke ab, die uns nach Chongqing bringen sollte. Auch diese Strecke war elektrifiziert, aber sehr kurvig. Mehr als 60km/h waren nicht drin. Wir folgten einem Gebirgstal, das langsam bergauf führte. Waren morgens noch Bananen zu sehen, verschwanden diese wieder. Guiyang lag wohl tiefer, aber auf dem Weg nach Chongqing musste ein Hochgebirge gequert werden. Das Tal war landwirtschaftlich sehr genutzt bis in die Hänge mit terrassen-artigem Anbau von Raps, der sehr schön blühte. Doch die Berge waren kahl, unzugänglich und komplett unerschlossen. Bergtourismus gab es noch nicht. Irgendwann ging es durch 2 sehr lange Scheiteltunnel durch. Dann offenbarte sich uns eine sehr tiefe, vielleicht 1000m tiefe Schlucht. Und die Bahnstrecke musste zusehen, wie sie sich da hinunter schlängelte.

Ab und an mussten wir an Ausweichgleisen anhalten und den Gegenzug abwarten. Dass das gefährlich werden konnte gerade auf diesem Streckenabschnitt, wussten wir zum Glück noch nicht. Sonst hätten wir die grandiose Landschaft bestimmt nicht genießen können. Diese Bahnstrecke war damals eine der gefährlichsten Strecken, nein, nicht wegen Erdbeben, sondern wegen bewaffneten Raubüberfällen. Robin-Hood-artige Banden raubten die Züge aus (v.a. nach Bargeld, wovon wir übrigens sehr viel hatten) und gaben es den Armen. Sie gingen recht brutal vor, weil sie im Falle des Erwischt-Werdens eh die Todesstrafe zu erwarten hätten und damit nichts mehr zu verlieren. Die Schaffner versteckten sich angeblich sofort, weil auf alles Uniformierte ohne Vorwarnung geschossen würde. Nicht ausgeschlossen ist, dass vielleicht auch unser Zug überfallen wurde. An einem der außerplanmäßigen Halte in der Pampa hätte es ja sein können. So ein Überfall muss ja blitzschnell gehen. Zeit dafür waren nur wenige Minuten. Da kann man sich natürlich nur auf wenige Wagons konzentrieren. Und ich vermute, dass die Banden die Softsleeper und die 1.Klasse-Sitzwaggons im Visier hätten.

Da es inzwischen eine 2-gleisige Neubaustrecke mit 200km/h gibt, dürften Überfälle diese Art der Vergangenheit angehören. Es gibt vielleicht noch 1 oder 2 K-Züge die alte Strecke, aber das sind jetzt die Arme-Leute-Züge, wo nicht viel zu holen ist. Ansonsten fahren auf der Altstrecke meist nur noch Güterzüge.


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#5

RE: Zugfahren in China

in Dies und das 13.04.2020 17:51
von Meridian | 2.898 Beiträge

Etwa 1-2 Stunden vor der erwarteten Ankunft in Chongqing erwartete ich, dass der städtische Bereich beginnen würde. Gesagt wurde mir, dass Chongqing mit 30Mio. Ew. und der Fläche der Schweiz die größte Stadt der Welt sein würde. Rein administrativ stimmt das. Aber viele ländliche Regionen gehören zum Stadtgebiet. Die wirklich städtische Region hat "nur" 3Mio Ew, mit Vororten vielleicht 7 Mio. So dachte ich immer, wenn Häuser erschienen, dass Chongqing beginnen würde, aber dann ging es ländlich weiter. Das Gebirge wurde nach dem Ende der Schlucht verlassen, der Zug fuhr sogar schneller. Es ging durch leicht hügeliges Land mit Bambuswäldern durch. Dann wurde ein großer Fluss gequert, es war der Jangtse-Kiang, der längste Fluss Asiens. Immer noch keine Stadt zu sehen. Dann kam ein langer Tunnel, wo der Zug immer langsamer wurde. Kaum aus dem Tunnel draußen, folgte ein großer Bahnhof, wo die Gleise endeten. Wir sind angekommen.

Am Bahnhofsvorplatz sah man sofort, dass Chongqing ärmer war als die Städte des Ostens: Hochhäuser, an denen Elendsviertel klebten. Sofort versuchten uns Leute ihre Fahrdienste anzubieten. Doch wir nahmen ein reguläres Taxi, das zu zur Weitervermittlung zum Schiff bringen sollte.

Der erste Eindruck: Während in Hangzhou ein Hupverbot herrschte, merkten wir, was es bedeutet, wo Hupen nicht verboten war: Der Taxifahrer fuhr auf eine Art Stadtautobahn, es wurde so wild gefahren, dass selbst Italiener diszipliniert wirkten. Gehupt wurde ständig, ja so beharrlich, dass ich den Eindruck hatte, die Hup-Unterbrechungen wären das eigentliche Warnsignal.

Noch etwas fiel auf: Keine Radfahrer zu sehen. Der Grund: Diese Stadt steht auf Hügeln und Bergen. Die Straßen sind dort häufig sehr steil, für Fahrräder ohne Gangschaltung ungeeignet, und die meisten chin. Räder hatten keine Gangschaltung.

Da diese Stadt eine regierungs-unmittelbare Stadt ist, wird sie besonders gefördert. Inzwischen blüht sie immer weiter auf, sie hat eine U- und Hochbahn sowie immer wieder öffentliche Schrägaufzüge, um die verschiedenen hoch gelegenen Stadtteile besser zu verbinden.

Das war es mit der Bahnfahrt. Von Chongqing ging es weiter mit dem Schiff auf dem Jangtse durch die Drei Großen Schluchten bis nach Wuhan, und zwar vor Fertigstellung des Staudammes. Gerne schreibe ich auch darüber.


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#6

RE: Zugfahren in China

in Dies und das 27.05.2020 00:27
von Meridian | 2.898 Beiträge

Nach der mehrtägigen Schifffahrt durch den Jangtse erreichten wir Wuhan. Darüber gibt es schon einen Thread:

Meine Zeit in Wuhan

Zur Vollständigkeit schreibe ich noch von der Zugfahrt zurück nach Hangzhou. Wir bekamen nur noch Sitzplätze in der 2. Klasse. Zu dritt bekamen wir eine Dreierseitzreihe. Es war in einem Großraumwaggon mit insgesamt 5 Sitzen in einer Reihe, davon 2 links vom Mittelgang und 3 rechts davon. Für einen Europäer waren diese Sitze recht eng, die nicht verstellbare Lehne steil und ohne Armlehnen.

Der Zug war ein K-Zug (damals Schnellzug, heute Eilzug), also eine Kategorie höher als der Zug auf der Hinfahrt. Die Waggons waren moderner, das Steh-Klo sauberer, die Laufruhe des Zuges besser. Aber wir hätten wirklich gerne Bettplätze gehabt, doch der Zug war voll. In den letzten 7 Nächten haben wir vielleicht in zweien oder dreien davon ausreichend geschlafen, zudem waren wir erkältet. Doch es half nichts. Die Fahrt ging 15 Stunden mitten durch die Nacht. Wenigstens war die etwas mehr als 1000km lange Strecke mit umgerechnet 35DM recht billig.

Trotz meiner starken Müdigkeit habe ich aber durchaus die Vorgänge im Waggon beobachtet. Ein Baby hat die ganze Fahrt durch immer wieder geschrien. Die meisten Leute hingen mehr dösend, als dass sie saßen.

Wie auch an den anderen Bahnhöfen war auch in Wuhan die ganze Abfertigung wie in einem Flughafen: Gepäckdurchleuchtung, Warten im Saal, Ticketentwertung bereits beim Boarding und weitere Kontrolle beim Einstieg in den Zug. Umso überraschter waren wir, dass auch im Zug die Tickets von der Bahnpolizei kontrolliert wurden. Mein Gastgeber hat aus dem Gespräch der Polizisten heraus verstanden, dass irgendjemand ohne Ticket im Zug wäre. Ich konnte mir bei den gründlichen Kontrollen nicht vorstellen, wie das ginge.

Der Zug war zwar schneller als derjenige auf der Hinfahrt, hielt auch weniger, aber die Fahrt zog sich dennoch fürchterlich lange. Ich fand keine angenehme Sitzposition. Doch gegen 2 Uhr nachts erlebten wir ein Paradebeispiel chinesischer Staatsmacht. Nach kurzem Einnicken hörten wir einen scharfen Ruf vom Mittelgang in unmittelbarer Nähe. Es war aus dem Munde eines der beiden Polizisten, gerichtet gegen einen Mann. Mein Gastgeber übersetzte es als "Betrüger!" Jaja, in unserem Waggon haben sie den Übeltäter erwischt, und zwar mit einer gefälschten Fahrkarte. Folgende Dinge geschahen fast gleichzeitig:

1. Der Zug kam zum Stehen mitten in der dunklen, total lichtlosen Pampa, keine Beleuchtung deutete auf die Nähe eines Bahnhof hin.

2. Die Leute im Waggon, gerade noch alle dösend, standen alle auf und glotzen zum Delinquenten (wie im Mittelalter, wo Panger, öffentliche Prügel und Schlimmeres ein öffentliches Spektakel waren). Dabei verdrehten so manche ihren Körper, um zwischen den anderen Leuten einen Blick auf den Verbrecher zu erhaschen.

3. Eine Frau in Zivil erschien am Waggonende und hielt eine Ansprache, wonach man wachsam gegen Räubern und Dieben sein solle. Es schien, als ob sie gerade zugestiegen wäre.

Mein Gastgeber meinte, wir sollen uns darauf gefasst machen, dass die Polizisten diesen Mann möglicherweise auf der Stelle halbtot prügeln würden. Immerhin hat er ein Staatsunternehmen betrogen, was in China fast als Politikum betrachtet wird. Auf jeden Fall würde er wohl jahrelang in ein Arbeitslager interniert. Die Polizisten tuschelten miteinander, auch mit Blick auf uns westliche Ausländer. Wir fielen alleine schon deswegen auf, weil wir nicht aufgestanden waren wie die anderen. Und sie beschlossen, den Delinquenten in einen anderen Waggon abzuführen. Die Leute stierten dabei stehend hinter ihm her. Die Frau, die die Ansprache hielt, verschwand ebenfalls, der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Vermutlich wurde der Mann in einem Waggon verprügelt, wo keine westlichen Ausländer waren. (Normalerweise reisen westliche Ausländer in der 1. Klasse oder im bequemen Softsleeper-Schlafwaggon.)

Im Nachhinein vermute ich folgendes: Die Polizisten haben den Betrüger längst entdeckt, wollten das "Erwischen" aber eindrucksvoll inszenieren. Die Frau mit der Ansprache stieg wohl zumindest am Bahnhof davor in den Zug (oder bereits in Wuhan). In Absprache mit dem Lokführer wurde wohl vereinbart, den Zug mit dem "Erwischen" für ein paar Minuten anzuhalten. Auf jeden Fall fürs Volk beeindruckend und Teil der staatlichen Propaganda.

Der Rest der Fahrt ist schnell erzählt: Es war nur noch qualvoll. Mein Körper schrie förmlich nach Schlaf, aber die Sitze waren einfach zu unbequem dafür. Endlich, gegen 7:30h morgens kamen wir in Hangzhou an, nahmen rasch ein Taxi, ließen uns heimfahren und warfen uns ins Bett, in dem wir bis 15:30h schliefen. Am liebsten wollten wir weiter schlafen, aber wir standen auf, um möglichst rasch wieder in den normalen Tagesrhythmus zu kommen. War auch gut so. Wir schliefen dann von 22-8h erneut und gut. Wir erholten uns rasch, und die Erkältung ging innerhalb der nächsten 2-3 Tage weg.


Die äußere Welt ist der Spiegel deines Inneren.
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